Jugendmedienschutz ohne Regelungen zu Mikrotransaktionen: Das Bundesgesetz verkommt zum zahnlosen Papiertiger
21.09.2022 / Gestern Dienstag hielt der Ständerat an seinem Beschluss fest, Mikrotransaktionen nicht in das Gesetz über den Jugendschutz bei Film und Videospielen (20.069) aufzunehmen. Dies obwohl die Zusammenhänge zwischen Mikrotransaktionen, Jugend, Glücksspiel und Sucht hinlänglich bekannt sind. Für die Fachorganisationen aus dem Suchtbereich ist es unerlässlich, für Mikrotransaktionen in Videospielen gesetzliche Leitplanken zu setzen. Die vom Nationalrat gewünschte Einführung von Inhaltsdeskriptoren Mikrotransaktionen wäre zwar ein Anfang, ist jedoch als einzige Massnahme nicht befriedigend.
Der Gesetzesentwurf
Im Juni 2021 folgte der Nationalrat den Empfehlungen von Suchtexperten und nahm Inhaltsdeskriptoren zu Mikrotransaktionen in den Gesetzesentwurf zum Jugendschutz in den Bereichen Film und Videospiele auf. Der Ständerat kam im Juni 2022 auf diese Entscheidung zurück. Während der laufenden Herbstsession beharrte jede Kammer auf ihren Positionen, bis hin zum Ständerat, der gestern an seiner Ablehnung einer Regulierung von Mikrotransaktionen festhielt. Sollte es zu keiner Einigung kommen, wird der gesamte Gesetzesentwurf auf der Strecke bleiben.
Jugendschutz, Mikrotransaktionen und Glücksspiel
Free-to-Play-Spiele (F2P), die zunächst kostenlos sind und dann über Mikrotransaktionen kostenpflichtige Inhalte anbieten, machen mit über 80 % des Umsatzes das vorherrschende Geschäftsmodell in der Videospielbranche aus. Free-to-Play-Spiele richten sich an ein sehr breites Publikum. Videospiele als solche erreichen jede:n, denn heutzutage spielt fast jeder. Bestimmte Formen von Mikrotransaktionen, wie z. B. Lootboxen, funktionieren wie Glücksspiele und normalisieren diese für Kinder und Jugendliche. Eine im Jahr 2021 durchgeführte Studie aus der Schweiz zeigt, dass es zwar keine signifikanten Unterschiede zwischen den Altersgruppen in Bezug auf das im Spiel ausgegebene Geld gibt, die 18- bis 29-Jährigen jedoch deutlich häufiger von finanziellen Schwierigkeiten aufgrund von Mikrotransaktionen betroffen sind (+20%!). Mehrere wissenschaftliche Studien haben einen signifikanten Zusammenhang zwischen dem Kauf von Lootboxen und der Neigung, eines Tages zu einer riskanten oder problematischen Glücksspielenden zu werden, aufgezeigt. Laut einer aktuellen Schweizer Publikation ist es neben der fehlenden Preis-Transparenz beim «Erwerb» von Free-to-play-Videospielen insbesondere das gesteigerte Risiko für zukünftige Gaming- und Glücksspielsuchtproblematiken, welches nach einer gesetzlichen Regulierung ruft. Aus Sicht der öffentlichen Gesundheit ist die Regulierung von Lootboxen und anderen Mikrotransaktionen von grosser Bedeutung.
Die Herausforderungen der Regulierung
Es ist nicht einfach, einen Bereich zu regulieren, der einem ständigen Wandel unterliegt. Die Grenzen zwischen Videospielen und Glücksspielen verschwimmen immer mehr. Belgien etwa hat beschlossen, Lootboxen als Glücksspiele zu betrachten, die auch jenen Regeln unterliegen. Ein begrüssenswerter Entscheid. Diese Mikrotransaktionen waren auch Gegenstand eines Aufrufs von 20 Verbraucherschutzorganisationen aus 18 Ländern, für welche sie einen Rahmen für missbräuchliche Praktiken forderten. In einer Antwort auf eine Interpellation erklärte der Bundesrat, es sei Sache der Spielaufsichtsbehörden (Eidgenössische Spielbankenkommission ESBK und Interkantonale Geldspielaufsicht Gespa) zu entscheiden, ob es sich bei Lootboxen um Glücksspiele handelt oder nicht. Nichts mehr als ein weiteres vor sich herschieben der Probleme. Angesichts dieses Phänomens müssen die Entscheidträger Teil der Lösung werden und dazu beitragen, ein sicheres und transparentes Umfeld für Spieler:innenr zu gewährleisten: Mikrotransaktionen gehören gesetzlich geregelt!
Wie weiter?
Der Ständerat hat drei zentrale Punkte für einen gelingenden Jugendschutz aus dem Gesetz gestrichen und damit einen wirksamen Jugendschutz im Bereich Film und Videospiele verunmöglicht: Neben der Regulierung der Mikrotransaktionen verweigert er den Einbezug von Expert:innen als ständige Mitglieder in der Beratung von Jugendschutzbestimmungen. Auch die äusserst relevante Stärkung der Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen hat er aus dem Gesetz gestrichen.
Eine grosse Koalition an Fach-Organisationen setzten sich im laufenden Gesetzgebungsprozess gemeinsam für einen wirksamen Jugendschutz in den Bereichen Filme und Videospiele ein: der Fachverband Sucht, Groupement Romand d’Etudes des Addictions (GREA), Kinderschutz Schweiz, Fédération Romande des Consommateurs (FRC), die Stiftung für Konsumentenschutz, die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände (SAJV), Pro Juventute und das Blaue Kreuz Schweiz.
Medienkontakt:
D : Cédric Stortz, Projektleiter Fachverband Sucht, 076 453 93 26
F : Camille Robert, co-secrétaire générale du GREA, 078 891 39 41