Invalidenversicherung und Sucht
Seit Juli 2019 sind Menschen mit einer Abhängigkeit nicht mehr per se von den Leistungen der Invalidenversicherung (IV) ausgeschlossen, sondern haben Zugang zum «strukturierten Beweisverfahren». Eine automatische Neubewertung bzw. ein Zurückkommen auf rechtskräftige Fälle bedeutet dies allerdings nicht.
Anspruch wird nicht mehr per se abgelehnt – keine Wiedererwägung
Im Juli 2019 fällte das Bundesgericht einen wegweisenden Entscheid: Personen mit einer Abhängigkeit können Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung (IV) erhalten. Wie bei psychischen Erkrankungen soll anhand eines so genannten strukturierten Beweisverfahrens geklärt werden, ob sich die Abhängigkeit auf die Arbeitsfähigkeit der betroffenen Person auswirkt. Zentral ist der IV-Grundsatz «Wiedereingliederung vor Rente». Er bedeutet, dass auch Personen mit einer Abhängigkeit nicht per se von beruflichen Integrationsmassnahmen der IV ausgeschlossen werden. In einem weiteren Urteil hielt das Bundesgericht im Juni 2021 allerdings fest, dass bei rechtskräftig abgelehnten Fällen keine Wiedererwägung erfolgt. Vielmehr müssen die betroffenen Personen glaubhaft machen, dass sich der Gesundheitszustand ärztlich belegt verschlechtert hat.
Praktische Umsetzung noch unklar
Vieles ist auch Jahre nach dem Entscheid noch offen, etwa was genau die Schadenminderungspflicht und die Zumutbarkeit im Falle von Menschen mit Abhängigkeit bedeuten. Dazu gibt es vonseiten des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) derzeit noch keine Vorgaben an die kantonalen IV-Stellen. Eine grosse Bedeutung hat gemäss BSV die Ausbildung einer kantonalen Entscheid- und Rechtspraxis. Eine Auswertung der kantonalen Praktiken und Urteile seit Juli 2019 ist dem Fachverband Sucht nicht bekannt. Allerdings ist die Ausbildung einer kantonalen Praxis nicht unumstritten, da es zu grossen Unterschieden in Bezug auf die Urteile kantonaler Gerichte und der Praktiken kantonaler IV-Stellen kommen kann (vgl. z.B. Auswertung der Auflagen zur Schadenminderung oder von Gerichtsurteilen).
Direkter Kontakt ist wichtig
Empfohlen wird Sucht-Fachstellen in jedem Fall, sich mit ihrer kantonalen IV-Stelle und den Ärzt:innen des Regionalen Ärztlichen Diensts (RAD) für einen fachlichen Austausch über Klient:innen und Patient:innen mit einer Abhängigkeit in Verbindung zu setzen.
Arbeitsergebnisse von Mitgliederorganisationen
- Präsentation «Zusammenarbeit mit der IV-Stelle und Bedeutung der IV-Leistungen für die Institution und die betroffenen Personen» von Margrith Meier, Neumühle, Ambulatorium für opiatgestützte Behandlung (Psychiatrische Dienste Graubünden PDGR), Jasmin Guler und Fabian Keller, Mitarbeitende der SVA Graubünden. Januar 2024
- Projektbericht «Zugang zu Leistungen der Invalidenversicherung für Suprax-Patient*innen erhöhen» von Florian Benecke, Suprax Ambulante Suchtbehandlung, Biel. Florian Benecke steht für Rückfragen zum Projekt gerne zur Verfügung (Kontakt siehe Projektbericht). Februar 2024
Aktivitäten des Fachverbands Sucht
Der Fachverband Sucht sucht weiterhin den Austausch mit den Bundesämtern für Gesundheit und für Sozialversicherungen, um die Situation für Betroffene zu verbessern.
Zudem bietet der Fachverband Sucht immer wieder Veranstaltungen und Fortbildungen rund um das Thema IV an:
Weiterführende Informationen
- IV-Rundschreiben Nr. 395: Strukturiertes Beweisverfahren bei Abhängigkeitssyndromen und Umgang mit Entzugsbehandlungen
- Schweizerische Gesellschaft für Suchtmedizin: "Praktischer Leitfaden zum Verfassen eines IV-Berichts mit besonderer Berücksichtigung von suchtmedizinischen Fragestellungen", via www.ssam-sapp.ch > Positionspapiere > Leitfaden zum Verfassen eines IV-Berichts
- Newsletter Inclusion Handicap «Handicap und Recht» 09/2019: Praxisänderung des Bundesgerichts: IV-Rentenanspruch auch bei Suchterkrankung